Martin Schmitz hat einen Lehrstuhl für Spaziergangswissenschaften
Kassel. Der Mann hat einen Traum von Millionen wahr gemacht: Martin Schmitz verdient sein Geld im Spazierengehen. Der 50-Jährige hat den deutschlandweit einzigen Lehrstuhl für Spaziergangswissenschaften. Unterrichtet wird das exotische Fach ausschließlich an der Kasseler Universität (Hessen).
Doch mit lockerem Spazierengehen hat die «Promenadologie» ebenso wenig zu tun wie mit müßigem Wandeln durch die Landschaft. «Ganz im Gegenteil, es geht eben gerade um das konzentrierte, das bewusste Wahrnehmen unserer Umwelt», erklärt Schmitz.
Dass der Fortschritt die Welt und den Menschen verändere, sei unumgänglich. Dass er sich dabei von der Umwelt entfremde und verlerne, die Welt um ihn herum wahrzunehmen, nicht. «Die Menschen suchen immer mehr nach Idylle und Landschaft, streben aber dennoch weiter in die Städte», sagt Schmitz. Auch mit diesem Widerspruch befasse sich die Spaziergangswissenschaft.
Begründet wurde die Promenadologie von Lucius Burckhardt. Der Schweizer entwickelte in den achtziger Jahren aus Elementen der Soziologie und des Urbanismus die Spaziergangswissenschaft. Als der Hochgeehrte vor knapp vier Jahren starb, war seine Kasseler Professur verwaist. Bis der Wanderstab im vergangenen Jahr von Burckhardts Schüler Schmitz aufgenommen wurde.
Der Berliner hatte Anfang der achtziger Jahre bei dem Professor studiert und eine Arbeit über «ambulantes Essen in der Stadt» vorgelegt. Daraus entstand das Buch «Currywurst mit Fritten - Über die Kultur der Imbissbude» - ein Musterbeispiel der Spaziergangswissenschaft.
«Unser Blick auf die Landschaft hat sich rasant verändert», erklärt Schmitz. Die erste Revolution sei die Eisenbahn gewesen. Mit einem Mal habe sich der Mensch viel schneller durch seine Umwelt bewegt, der Blick sich zwangsläufig verengt. «Selbst wenn er spazieren geht, entgehen dem modernen Menschen so Details, die seinem Vorfahren mit Sicherheit aufgefallen wären.» Das Auto habe die Revolution fortgesetzt und die Billigflieger hätten sie auf die Spitze getrieben.
Auch Google Earth und GPS mischen dabei mit, sich immer besser zurechtzufinden und immer weniger zu sehen. «Heute fährt man in ein, zwei Stunden durch eine Landschaft und sagt hinterher: Das Burgund ist auch nicht mehr das, was es mal war.» Schmitz warnt vor einer «gewissen Disneysierung» der Umwelt: «Wir haben verlernt, Landschaften zu sehen. Was wir brauchen, sind zwei, drei Bausteine: Strand, Palme, Meer gleich Südsee; Berg, Wald, Schnee gleich Alpen. Details sind überflüssig und werden gar nicht mehr wahrgenommen.» So würden vor allem in Urlaubsgebieten heute Landschaften regelrecht designt, um sie den Natur-Vorstellungen der Gäste anzupassen.
Und was kann die Spaziergangswissenschaft tun? «Es geht darum, die Augen zu öffnen und die uns umgebende Welt wieder in die Köpfe zurückzuholen. Die Menschen müssen einfach dieses Naturkino, zum Beispiel das Ändern des Wetters, wieder wahrnehmen.»
Kein leichtes Unterfangen in einer Gesellschaft, in der bei minus zehn Grad im Winter gleich von einer Kältewelle und nach einem ordentlichen Schauer von «sintflutartigen Regenfällen» gesprochen wird. Schmitz empfiehlt, bekannte Wege anders zu gehen: Die gewohnte Autoroute plötzlich mal mit dem Fahrrad abzufahren oder zu Fuß zu gehen. «Es ist faszinierend, wie die Augen die gleiche Welt völlig anders wahrnehmen.» Und er empfiehlt, neue, unbekannte Wege zu gehen: «Beim Autofahren: Einfach mal das Navigationssystem ausmachen.»