Liu Xiang - der Popstar der chinesischen Leichtathletik
Von Claus Dieterle, Stuttgart
Dem Sieg entgegen
10. September 2006
Da war er Tausende Kilometer fernab der Heimat, und doch fühlte sich Liu Xiang in Stuttgart ganz wie zu Hause. „Ich war total überrascht, wie viele Chinesen hier waren und mich angefeuert haben“, sagte der Olympiasieger im Hürdensprint. Vielleicht war das ja auch mit ein Grund, warum beim Weltfinale der Leichtathleten im Gottlieb-Daimler-Stadion am Ende der 110 Meter die herausragende Zeit von 12,93 Sekunden für ihn zu Buche stand – die drittbeste in seiner Karriere.
Soviel Zuspruch außerhalb der Landesgrenzen ist selbst die Kultfigur der chinesischen Leichtathletik nicht gewöhnt. Doch in Stuttgart machte sich in der Zielkurve eine ansehnliche Schar junger Landsleute, vorwiegend weiblichen Geschlechts, in roten T-Shirts lautstark und fahnenschwenkend bemerkbar. Und später, am Athleteneingang, glich die Situation schon fast einem Belagerungszustand.
Wie ein gelangweilter Pennäler
Strahlemann
Doch selbst Sprechchöre konnten den Superstar nicht erweichen, den Kontakt mit seiner „deutschen“ Fangemeinde zu suchen. Liu, der manchmal ein bißchen an den berühmten Zappelphilipp erinnert, weil er kaum stillsitzen kann, hampelte derweil gutgelaunt in den Katakomben des Stadions umher, bis er fürs erste verschwand. Und manchmal wundert man sich, wie sich ein derart begnadeter Hürdentechniker abseits der Laufbahn grobmotorisch so unkoordiniert bewegen kann.
Später, als Liu wiederauftauchte, hatte er sich körperlich soweit beruhigt, daß es ihn wieder längere Zeit auf einem Stuhl hielt. Dafür lümmelte er dann irgendwann wie ein gelangweilter Pennäler oben auf dem Podium, das Kinn auf die Hände gestützt, halb auf dem Tisch liegend. Doch in welcher Position auch immer, kommunikativ ist der so ganz unasiatisch, weil voller Emotionen daherkommende Mann aus Schanghai fast immer. Wobei manche Details seiner bisweilen weitschweifigen Ausführungen in der Übersetzung leider verlorengehen.
Umjubelt
Aber immerhin wird klar, daß sein Auftritt in Stuttgart nie als Weltrekordversuch gemeint war. „Mein Schwerpunkt liegt eigentlich auf dem Weltcup nächste Woche in Athen“, sagt Liu. „Außerdem war ich schon nach der dritten, vierten Hürde vorn und ganz entspannt“, sagte er.
"Wann holst du dir den Rekord?"
Ganz im Gegensatz zu dem Rennen am 11. Juli in Lausanne, als er in 12,88 Sekunden den 13 Jahre alten Weltrekord des Briten Colin Jackson um drei Hundertstel verbessert hatte. „Da war die Konkurrenz viel stärker, und ich mußte bis zuletzt alles geben.“ Und warum sollte er schon wieder sich selbst übertreffen. „Ich habe doch keinen Druck mehr jetzt“, sagt er. Den hatte er vor Lausanne. „Da haben in China alle immer wieder gefragt: Na, wann holst du dir endlich den Rekord?"
Den hat er jetzt, aber seit Lausanne hatte man nichts mehr von Liu gesehen und gehört. Außer in China. „Ich war zu Hause, habe in Peking und Schanghai trainiert“, erzählt er. Das öffnet in diesen Zeiten natürlich Raum für Spekulationen, zumal einige in der Szene behaupten, Zeiten unter 13 Sekunden seien ohnehin suspekt, aber so ganz freiwillig ist die Abstinenz vom internationalen Geschehen auch wieder nicht.
Liu Xiang hat Verpflichtungen in der Heimat, die ihm bisweilen eher Last denn Lust zu sein scheinen. Zum Beispiel, wenn er, wie Anfang August, bei nationalen Meisterschaften antreten muß, weil er als Popstar der chinesischen Leichtathletik die Zuschauer anlockt. „Es ist für mich bedeutungslos, hier einen Wettkampf zu bestreiten“, sagte er dem „China Daily“, „aber ich habe keine Wahl.“ Also holte er ohne Lust und großen Aufwand seinen sechsten nationalen Titel ab.
Angst vor dem Xiang-Fieber
Die Popularität ist eine zweischneidige Sache. Wenn Xiang Liu erzählt, daß er seit seinem Olympiasieg von Athen nicht mehr unbehelligt in die Öffentlichkeit gehen kann, weil jeder etwas von ihm will, wobei aufdringliche Autogrammjäger noch das harmloseste sind, dann hat man das Gefühl, daß sich der 23 Jahre alte Hürdensprinter manchmal vor lauter Zuneigung erdrückt fühlt. Bei den chinesischen Meisterschaften haben sie ihm geraten, aus Sicherheitsgründen bloß kein einziges Autogramm zu geben, um ja keinen Ansturm auszulösen. Das „Xiang-Fieber“ nimmt bisweilen solche Formen an, daß sein Trainer Sun Haiping, der streng darauf achtet, daß das Training nicht zu kurz kommt, schon ernsthaft erwogen hat, ob es gerade im Hinblick auf die Olympischen Spiele 2008 in Peking nicht besser sei, künftig im Ausland zu trainieren – um endlich Ruhe zu haben.
Andererseits läßt sich die Popularität auch in China mittlerweile bestens vermarkten. Im vergangenen Jahr soll Liu Xiang 2,8 Millonen Dollar in der Werbung – für Kreditkarten, Softdrinks, Milch, Kleidung – verdient haben. Nicht schlecht, aber natürlich bringt das jede Menge PR-Termine mit sich. Also muß man einen Mittelweg finden. Früher hat der Olympiasieger nur schwer nein sagen können, aber heute behauptet er: „Ich habe gelernt, mit der Situation umzugehen und mich auf das Training zu konzentrieren.“ Die Zeiten in diesem Jahr scheinen ihm recht zu geben. Man fragt sich nur: Was passiert in China, wenn der Mann 2008 Olympiasieger wird?