Die Glitzermetropolen Shanghai und Peking sind Symbole des chinesischen Wirtschaftswunders. Doch im Westen des Riesenreichs bringt sich ein Konkurrent in Position. Chongqing will zu den reichen Küstenstädten aufschließen - und ist bereit, dafür einen hohen Preis zu zahlen.
Chongqing - Ein nächtliche Taxitour durch die zentralchinesische Millionenstadt Chongqing gleicht einer Achterbahnfahrt. Dass Taxifahrer in der Volksrepublik ihre Gäste schnell und ohne Rücksicht auf Verluste befördern, ist die Regel. In Chongqing aber kommt hinzu, dass sich die Metropole auf mehrere Hügel an den Ufern der Flüsse Jangtse und Jialing verteilt. Deswegen sprechen Chinesen auch von der "Bergstadt, in der niemand Fahrrad fährt".
Und so gerät der Trip zu einer wilden Berg- und Talfahrt. Am Ende ist der Gast froh, heil aus dem altersschwachen Wagen zu klettern. "Viel Spaß noch in Chongqing, hier gibt es die besten Bars von ganz China", kräht der Taxifahrer vergnügt hinterher. Ein Drink wäre jetzt in der Tat nicht schlecht.
Der offen vorgetragene Stolz des Fuhrunternehmers auf die eigene Kneipenszene ist bezeichnend für Chongqing. Zwar wirkt die Garderobe der Einwohner im Vergleich zu Peking provinziell. Auch erreichte das Bruttosozialprodukt 2004 mit 266,5 Milliarden Yuan nicht einmal den Halbjahreswert von Shanghai. Dennoch sehen sich die Bürger als neue Avantgarde im Wirtschaftswunderland China.
Comeback am Jangtse
Man könnte von einem Comeback sprechen. Im vergangenen Jahrhundert war Chongqing zwischenzeitlich das Zentrum des Riesenreichs. 1938 zog sich die Regierung unter Chiang Kai-Shek auf der Flucht vor den Japanern dorthin zurück. Während des Zweiten Weltkriegs war die neue Hauptstadt des Landes wiederholt Ziel von Luftangriffen. Die Bunkerkavernen am Flussufer zeugen noch heute davon. Die Kommunisten unter Mao integrierten die Stadt später in die benachbarte Provinz Sichuan. Um Chongqing wurde es wieder still.
Mit der wirtschaftlichen Öffnung Chinas in den neunziger Jahren setzte der Aufschwung auch hier ein, wenn auch mit leichter Verspätung. Dabei profitierte Chongqing vom historischen Erbe. Seit jeher gilt die Stadt als Verkehrsknotenpunkt zwischen West- und Ostchina. Hier liegt einer der größten Flusshäfen am Jangtse, der wichtigsten Wasserstraße des Landes.
Seit Ende der dreißiger Jahre wurden in der Region überdies zahlreiche Industriebetriebe angesiedelt. Bis heute gilt Chongqing als wichtiger Standort der chinesischen Maschinen-, Chemie- und Autobranche. Mittlerweile haben sich dort unter anderem Großkonzerne wie Honda, BP, Pepsi Cola oder Philips niedergelassen.
1997 erklärte der Staatsapparat Chongqing zur regierungsunmittelbaren Stadt, ein Status der Unabhängigkeit, den in China nur wenige Metropolen haben, darunter Peking und Shanghai. Damit nicht genug: Neben dem Stadtgebiet mit rund 7,5 Millionen Einwohnern gehört seither auch das Umland von der doppelten Größe der Niederlande mit zahlreiche Kleinstädten und Dörfern zur Verwaltungszone. Mit insgesamt 31,7 Millionen Bürgern ist Chongqing damit aus administrativer Sicht die größte Stadt der Welt - ein gigantisches Reservoir an Arbeitskraft.
Einen dritten Schub bekam Chongqing 1999, als die Zentralregierung die "Große Strategie zur Westentwicklung" verkündete. Weil die Regionen im Inland wirtschaftlich hinter dem boomenden Osten zurückblieben, begann Peking damit, den Ausbau des Westens im großen Stil voranzutreiben. Zahlreiche Infrastrukturprojekte wurden angeschoben, ausländische Investoren mit Steuernachlässen gelockt. Einer der wichtigsten Programmpunkte war und ist die Entwicklung von Chongqing.
Komfortables Energiepolster
Entsprechend gibt sich Vize-Bürgermeister Huang Qifan kaum Mühe, sein Selbstbewusstsein zu verbergen. Huang ist sozusagen ein Spezialist, was Mega-Metropolen angeht. Zuvor saß er in der Wirtschaftskommission von Shanghai. Nun macht er sich daran, Chongqing nach vorne zu bringen. Beobachter rechnen sogar damit, dass Huang ein Kandidat für höhere Aufgaben in Peking ist.
Der Politiker mit der hohen Stirn und der dicken Hornbrille empfängt seine Gesprächspartner in einem unscheinbaren Gebäude der Stadtverwaltung. Es gibt grünen Tee und der Raum ist völlig überheizt. Huang läuft zur Höchstform auf und referiert die Wachstumsstory von Chongqing. Das Bruttosozialprodukt kletterte 2004 um zwölf Prozent in die Höhe, verkündet der Vize-Stadtchef. Der Anteil an Privatunternehmen liege nun bei knapp 50 Prozent. Der Urbanisierungsgrad steige stetig.
Auch, so führt Huang weiter aus, habe Chongqing keine Energieprobleme. Wasserkraftwerke wie der gigantische Drei-Schluchten-Staudamm am Ostende des Stadtgebiets und große Gas- und Kohlevorkommen sichern die Stromversorgung. Netzzusammenbrüche - an der Küste ein häufiges Phänomen - drohten hier nicht. "Im Osten wird es mehr Energieprobleme und Arbeitskräftemangel geben. Die Unternehmen werden zu uns kommen", versichert Huang gegen Ende seines Auftritts.
(Alb-)Traum der Stadtplaner
Eigentlich brauchen Besucher den Zahlen- und Datenwust nicht, um eine Ahnung von dem Aufschwung Chongqings zu bekommen. Ein Blick auf die Skyline reicht. Überall wird gebaut. Mit gewagten Konstruktionen schwingen sich Stadtautobahnen über die steilen Flusstäler. Seilbahnen verbinden die Ufer. Auf den Straßen staut sich der Verkehr. Geschäftig eilen Fußgänger vorbei.
Beim Ausbau der Stadt kennen die Verantwortlichen kein Pardon. Alte Bausubstanz planieren sie gnadenlos. Lange Genehmigungsverfahren gibt es nicht. Chongqing ist der Traum eines jeden Stadtplaners. Oder auch nicht.
Manfred Siry jedenfalls beobachtet das Treiben mit gemischten Gefühlen. Der gebürtige Kölner arbeitet für das Stadtplanungsinstitut der Universität von Chongqing. An einem grauen Morgen Mitte November balanciert er über ein Trümmerfeld im Stadtteil Shaping-Ba. Die Bagger haben hier ganze Arbeit geleistet. Von den alten Höfen stehen nur noch jene am Hang oberhalb. Unten an der Hauptstraße, die parallel zum Jialing-Fluss verläuft, erinnern nur noch vereinzelte Mauerreste daran, dass hier mal jemand gewohnt hat. Gegenüber wächst bereits der Rohbau eines Hochhauses in den Himmel.
"In fünf Jahren wird das Stadtgebiet von Chongqing völlig umgekrempelt sein. Dann gibt es von wenigen Ausnahmen abgesehen kein Gebäude mehr, das vor 1980 gebaut wurde", prognostiziert Siry. Einige Bewohner aus den verbliebenen Altbauten schauen neugierig herüber. Für sie verbessert sich die Wohnsituation teilweise, die sanitäre Versorgung in den alten Hofgebäuden ist mitunter katastrophal. Allerdings wird das Leben auch teurer. Früher kostete eine Wohnung monatlich nicht mehr als eine Schachtel Zigaretten, heute müssen die Mieter ein Vielfaches bezahlen.
Anzeichen für Kontrollverlust
Was Siry aber größere Sorgen bereitet, ist der unkontrollierte Zuzug der Landbewohner. Eigentlich darf man in China nur mit Genehmigung der Behörden in die Stadt ziehen. "Hier aber wird die illegale Migration teilweise toleriert", erklärt der 46-Jährige. Auch deswegen, so mutmaßt er, weil der Bedarf an Arbeitskräften ungebrochen hoch ist. Der Stadtplaner sieht erste Ansätze von Kontrollverlust. "Bei der rasanten Entwicklung der Marktwirtschaft hat die Politik zusehends Probleme, den Überblick zu behalten", warnt Siry.
Erste Ergebnisse der Verselbständigung lassen sich bereits beobachten. Als Ende November im nordöstlichen Harbin nach einem Chemieunfall die Trinkwasserversorgung zusammenbrach, geriet auch Chongqing in die Schlagzeilen. Im Stadtgebiet war zuvor ein Chemiewerk explodiert, 6000 Menschen mussten ihre Häuser verlassen. Zumindest bei negativen Wachstumsfolgen kann die Millionenstadt auf den Bergen schon halbwegs mit den küstennahen Regionen mithalten.作者: 鸟鸟爱装嫩 时间: 2005-12-28 14:24